ENERGIEWENDE
Klimaneutral bis 2045 — Das Minimum der Energiewende
Diese Maßnahmen müssen jetzt entschlossen umgesetzt werden, damit die Energiewende klimaneutrales Leben über Deutschland hinaus ermöglicht.
von Nikolas Baumgartner — Mai 2021
Halbherziges Klimaschutzgesetz
36,44 Gigatonnen CO2 hat die Weltbevölkerung 2019 vor allem durch die Verbrennung fossiler Energieträger in die Luft gepustet — so viel wie nie zuvor. 2% davon wurden in Deutschland emittiert. Wenn man jedoch Treibhausgase, die im Zusammenhang mit Exportgütern entstehen, herausrechnet und “importierte” Treibhausgase berücksichtigt, fallen für jede*n Deutsche*n 10 Tonnen CO2 pro Jahr an — mehr als doppelt so viel wie der weltweite Durchschnitt.
Und trotzdem gibt es Grund für Optimismus, denn seit den Neunzigern werden in Deutschland Klimaschutzmaßnahmen getroffen, die die Pro-Kopf-Emissionen um ein Drittel senken konnten. Das Reduktionsziel für 2020, 40% weniger CO2 auszustoßen als im Spitzenjahr 1990, ist — dank der Coronakrise — gelungen. Glücklicherweise, denn die aktuelle Bundesregierung scheint vom Klimaschutz eher überfordert statt überzeugt zu sein. So ähnlich sieht es auch das Bundesverfassungsgericht und stimmte im April 2021 Fridays For Future und anderen Klägern zu, dass das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung nicht weit genug gehe und jüngere Generationen benachteiligt würden.
Wöchentliches Schuleschwänzen und riesige Menschenmengen in deutschen Innenstädten waren offenbar nicht ausreichend für angemessene Klimaschutzmaßnahmen. Zwar besserte die Bundesregierung gleich zwei Wochen nach dem Urteil des Verfassungsgericht ihr Klimaschutzgesetz nach und beschloss verschärfte Zwischenziele und Klimaneutralität bis 2045. Allerdings ist man sich noch nicht über die Maßnahmen einig, die zu dieser drastischen Reduktion führen sollen. Und trotz des nachgebesserten Gesetzes zweifeln Klimaexpert*innen, dass Deutschland damit das 1,5°-Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens einhalten kann.
Der Masterplan für Klimaneutralität
Dabei gibt es schon längst viele viele Studien, die untersucht haben, was für ein klimaneutrales Deutschland und das 1,5°-Ziel unternommen werden müsste. Denn an Ideen mangelt es nicht in diesem Land. Ganz im Gegenteil: Kaum ein Land der Welt hat die Möglichkeit, auf so einen großen Pool an Wissenschaftler*innen zurückzugreifen. Die Regierungsvertreter*innen könnten zum Beispiel die Maßnahmen der im April 2021 veröffentlichten Studie von Prognos, des Öko-Instituts und des Wuppertal Instituts umsetzen, die in drei Schritten Klimaneutralität bis 2045 anvisiert.
Der erste Schritt ist der entscheidenste, denn wenn die Weichen einmal richtig gestellt sind, werden Unternehmen und die Zivilbevölkerung mit weiterer gesellschaftlicher Gestaltungskraft auf den Kurs der Klimaneutralität aufspringen. In der vorgestellten Studie wurde diese Komponente der Energiewende nicht mit einbezogen, sondern mögliche ökonomisch-technische Minderungspotentiale aufgeführt.
Um uns mit einem vollständig regenerativen Energiesystem im Wettlauf gegen den Klimawandel behaupten zu können, werden Investitionen von jährlich 62 bis 83 Milliarden Euro unvermeidbar sein. Das sind insgesamt zwischen ca. 1,5 und 2 Billionen Euro. Unfassbar viel Geld! Wenn man diese Summe allerdings in Relation mit den stetig steigenden volkswirtschaftlichen Schäden des Klimawandels in Deutschland setzt: 800 Milliarden bis 2050 und 3 Billionen bis 2100, falls keine Gegenmaßnahmen getroffen werden würden, haben wir gar keine andere Wahl.
Da die globalen Schäden des Klimawandels noch um einiges höher wären und die schrecklichen humanitären Folgen keine Option sind, gibt es nur eine Lösung: Energiewende — und das so schnell wie möglich. Was ist also zu tun für ein klimaneutrales Deutschland?
Energiewende in allen Sektoren
Die oberste Prämisse der Energiewende ist die Vermeidung von Verbrennungsprozessen mit fossilen Energieträgern. Folglich steigt der Bedarf an CO2-neutralen Alternativen in allen Sektoren. Die Lösung für Emissionsvermeidung liegt auf der Erzeugerseite im schnellen Ausstieg aus der Kohle, einem massiven Ausbau von erneuerbarer Stromerzeugung und der Produktion von grünem Wasserstoff aus dem Stromüberschuss. Auf der Verbraucherseite müssen Prozesse elektrifiziert, der Energieverbrauch um die Hälfte reduziert und bei energieintensiveren Prozessen auf Wasserstoff umgestellt werden. Außerdem müssen die Tierbestände reduziert werden und in Folge dessen größere Marktanteile von pflanzlichen Eiweißprodukten entstehen. Das bedeutet für die Sektoren im einzelnen:
Energiewirtschaft
Neben dem zeitnahen Auslaufen der unwirtschaftlichen Atomkraftwerke müssen auch die klimaschädlichen Kohlemeiler deutlich vor dem aktuell geplanten Jahr 2038 vom Netz gehen. Durch die zunehmende Elektrifizierung wird der Stromverbrauch von 2018 bis 2030 voraussichtlich um 9% und von 2030 bis 2045 um knapp 60% wachsen. Deshalb ist ein frühzeitiger und konsequenter Ausbau von Photovoltaik- und Windkraftanlagen dringend notwendig. Der Vorteil dieser beiden erneuerbaren Energien ist, dass sie so gut wie überall “geerntet” werden können — also auch dezentral auf dem eigenen Haus, als Unternehmen oder Gemeinde. Für eine flächendeckende Versorgung ist außerdem ein Stromnetzausbau erforderlich.
Da Wind und Sonne nicht zu jeder Zeit und an jedem Ort verfügbar sind, wird die Energiegewinnung Schwankungen unterworfen sein. Der Stromverbrauch tut dies ebenso: Nacht zu Tag sowie Winter zu Sommer. Deshalb wird an sonnigen und windigen Tagen ein Überschuss produziert, der zu gasförmigem Wasserstoff umgewandelt werden kann. Das deutsche Gasnetz, das im Moment noch für die Wärmeversorgung mit Erdgas ausgelegt ist, muss zum Wasserstoffnetz umgebaut werden, damit der gespeicherte Wasserstoff in den Verbrauchsspitzen, für energieintensive Prozesse und an wind- und sonnenarmen Tagen wieder zur Stromerzeugung verwendet werden kann.
Industrie
Die Industrie muss in den nächsten zehn Jahren in Technologien investieren, die auf Strom, erneuerbarem Wasserstoff und ab 2030 auch Biomasse als Energieträger basieren. Die größten industriellen CO2-Verursacher sind die Stahlproduktion und die Zement- und Chemieindustrie. Durch Verfahrensänderungen können die Prozesse effizienter in eine Kreislaufwirtschaft eingebunden werden. Mit CCS-Verfahren (Carbon Capture and Storage) und dem erforderlichen Infrastrukturausbau kann unvermeidbares CO2 an geeigneten Standorten unterirdisch gespeichert werden. Mehr Recycling und langlebigere Produkte bieten zusätzliches Einsparpotential.
Gebäude
Mit der Umstrukturierung des Gasnetzes für die Verstromung von Wasserstoff müssen auch die Fernwärmenetze ausgebaut und mit zunehmendem CO2-Preis Öl- und Gasheizungen durch elektrische Wärmepumpen ersetzt werden. Gebäude sind der Bereich mit dem aktuell größten Energiebedarf. Um die Wärme effizienter nutzen zu können, wird in der Mitte des Jahrhunderts beinahe jedes Haus entweder ein Neubau oder ein sanierter Altbau sein. Die Sanierungsrate muss daher mehr als verdoppelt und konsequent beibehalten werden. Die Zunahme von erneuerbaren Baumaterialien und klimaschonenden Baustoffen spart zusätzliche Ressourcen.
Verkehr
Seit 1990 gab es bis zur Coronakrise keinen Emissionsrückgang im Verkehrssektor, obwohl PKWs theoretisch immer effizienter geworden sind, praktisch aber auch schwerer und leistungsstärker. Nun muss es innerhalb eines Jahrzehnts gelingen, dass keine neuen Pkw mit Verbrennungsmotor mehr zugelassen werden. Deutschland bleibt aber trotzdem mobil — nur eben mit E‑Autos, die nicht mehr zwangsläufig privat sein müssen, zu Fuß, mit dem Fahrrad oder verstärkt mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Bus und Bahn werden mit batterieelektrischen, Oberleitungs- oder Brennstoffzellenfahrzeugen betrieben, ebenso wie der Straßengüterverkehr, der zunehmen wird, wenn die Wirtschaft weiter wachsen soll. Auch Schiffe und Flugzeuge müssen so weit wie möglich auf strombasierte Kraftstoffe umgestellt werden. Die Nachfrage im internationalen Luftverkehr muss trotzdem sinken und das Reisen mit der Bahn attraktiver gemacht werden.
Landwirtschaft
Auf den Feldern der nahen Zukunft muss Dünger effizienter eingesetzt werden, beispielsweise durch digitale Technologien. Mehr Bio, weniger Stickstoffbedarf und weniger Tiere können die landwirtschaftliche Produktion nachhaltig verändern. Folglich werden weniger Fleisch- und Milchprodukte hergestellt und pflanzliche und synthetische Ersatzprodukte werden billiger und gewinnen an Zuspruch. Außerdem können bei manchen Kulturpflanzen, wie beispielsweise der Kartoffel, Photovoltaikanlagen über den Äckern dafür sorgen, dass mit mehr Schatten weniger Wasser verdunstet, Erträge gesteigert und gleichzeitig Strom gewonnen werden kann. Mit weniger Tieren braucht es weniger Futterflächen und es gibt weniger Dung — stattdessen wird die Nachfrage an festen Biobrennstoffen vermutlich steigen. Auch nach Energieholz, deswegen werden hoffentlich wieder vermehrt Gehölzstreifen die landwirtschaftlichen Flächen zieren. Das CO2-Speicherpotential der Böden muss weiter erschlossen und Moore wieder vernässt werden (LULUCF).
Kompensation
Vor allem durch die verbleibende Tierhaltung, biologische Bodenprozesse mit Düngemitteln und in Teilen der Industrie werden Restemissionen verbleiben. Um diese zu kompensieren, kann CO2 direkt aus der Atmosphäre (DACCS) oder indirekt bei der Verbrennung von nachhaltig angebauter Biomasse (BECCS) entnommen und langfristig unterirdisch eingelagert oder zu Kunststoff (grüne Polymere) verarbeitet werden.
Import
Mit der Elektrifizierung von Wärme, Mobilität und Industrie und der Produktion von Wasserstoff wird sich der Stromverbrauch in Deutschland bis 2045 voraussichtlich nahezu verdoppeln. Die Energiewende ist deshalb nur möglich, wenn innerhalb Europas und darüber hinaus ein zuverlässiger Wasserstoffmarkt entsteht.
Klimaneutrale Welt
Da die deutschen Flächen und Ressourcen nicht für den wachsenden Energiebedarf ausreichen, setzt die nationale Wasserstoffstrategie der Bundesregierung auf Kooperationen in Afrika. Viele Staaten in Afrika besitzen zwar geeignete Standorte für erneuerbare Energien und Wasserstoffelektrolyseure, jedoch fehlt es an Investitionskraft und Know-how für die Errichtung entsprechender Anlagen. Damit die deutsche Energiewende gelingen kann, muss deshalb auch die dortige Stromversorgung mit aufgebaut und in die afrikanische Energiewende investiert werden. Nur wenn der Wandel gesellschaftlich und wirtschaftlich für die afrikanischen Kooperationspartner profitabel ist, kann man diesen Schritt verantworten und Internationale Klimaziele gemeinsam erreichen. Mit der Errichtung einer Wasserstoffinfrastruktur können dann langfristig zuverlässige Handelsbeziehungen für grünen Wasserstoff aus Afrika entstehen.
Seit dem Machtwechsel im Weißen Haus sind nun auch die USA glücklicherweise wieder in der Gegenwart des Klimawandels angekommen. Was allerdings zur Folge hat, dass nun alle drei Top-Treibhausgas-Verursacher — China, USA und Deutschland — den Markt für Klimaschutz für sich gewinnen wollen. Kann sich Deutschland da behaupten und “Made in Germany”-Leitmarkt und Leitanbieter für Klimaschutztechnologien werden? Die jetzige Bundesregierung tut sich noch schwer, einen konsequenten Strukturwandel anzuführen. Aber ohne eine “ökonomische Erfolgsgeschichte” werden sich andere Länder ebenso zurückhalten. Mit den Bundestagswahlen im September bekommt ganz Deutschland nun die Möglichkeit, eine neue Führung zu wählen, die diesen Herausforderungen gewachsen ist.
Für die Lebensbedingungen auf unseren Planeten, die mittlerweile durch immer mehr Extremwetterereignisse mit wirtschaftlichen Schäden, menschlichem Leid und kollabierenden Ökosystemen geprägt sind, kommt der Klimaschutzhype hoffentlich noch rechtzeitig und kritische Kipppunkte werden nicht erreicht. Der Strukturwandel bis 2045 ist ambitioniert und der Übergang zur Klimaneutralität stellt alle Bereiche vor enorme Herausforderungen. Aber auch das Erreichen des 1,5°C‑Ziels ist noch möglich, wie Fridays For Future 2020 in einer eigenen Studie vom Wuppertal Institut hat untersuchen lassen. Welchen Weg wir wählen, ist eine Frage des Verantwortungsbewusstseins und der Wertschätzung für junge und zukünftige Generationen, andere Völker und den Planeten über unsere eigene Existenz hinaus.
weitere Quellen
Bildquellen
Titelbild von Alexander Kliem/Pixabay
Treibhausgasreduktionspfade von Fridays For Future/fridaysforfuture.de
Schaubilder von Prognos, Öko-Institut, Wuppertal-Institut (2021):
Klimaneutrales Deutschland 2045. Wie Deutschland seine Klimaziele schon vor 2050 erreichen kann
Zusammenfassung im Auftrag von Stiftung Klimaneutralität, Agora Energiewende und Agora Verkehrswende